Der Stoff, aus dem die Wirklichkeit ist

Theater machen Menschen aus vielen Gründen. Ein eher außergewöhnliches Motiv nennen die Mitglieder der Theatergruppe ,,Luz de Luna" aus Bogotá: Sie verstehen ihre Arbeit als einen Beitrag, um das weitere Zerfallen der Gesellschaft aufzuhalten, um den von Gewalt physisch und seelisch geschundenen Menschen die Kraft zu geben weiter zu leben, traumatische Erlebnisse zu überwinden. Ihre Überlebens-Kunst geht selbst in der vielgestaltigen und reichen Theaterszene Kolumbiens sehr eigene kreative Wege. Denn die Schauspieler und Schauspielerinnen sehen sich als Mitbetroffene, als Bestandteil des Publikums, dessen Erfahrungen sie auf der Bühne verarbeiten.

VON GABY KÜPPERS ila

Rosario Vergara bekommt leuchtende Augen, als sie das Album mit den nach Europa mitgebrachten Fotos von einer Aufführung ihrer Theatergruppe im kolumbianischen Manizales durchsieht. ,, Hier", sagt sie und weist auf ein offensichtlich verunsichertes Publikum, ,,das ist, als die Indios zum ersten Mal vertrieben werden." Eine Schauspielerin in indianischen Kleidern, lehmbeschmiert, bahnt sich einen Weg durch das auf dem Boden hockende Publikum. Sie treibt es offensichtlich zum Aufstehen an. Die Verzweiflung ist ihr ins Gesicht geschrieben. Nach und nach überträgt sich die Verstörung der Frau auf die ZuschauerInnen, bis sie sich schließlich erheben und ihr zu einer zweiten Bühne folgen. Unversehens sind sie zu (An-)Teilnehmerlnnen geworden.

,,Das ist bei einer Rumba", sagt Rosario und weist auf eine fröhliche Szene auf dem nächsten Foto, ,,die da, sie senkt die Stimme und tippt auf ein paar Tänzerin ,,die wissen noch nicht, dass wieder vertrieben werden.... und da, die sind alle tot.

Die Fotos stammen aus de ,,Aterra", der jüngsten Produktion der kolumbianischen Gruppe ,,Luz de Luna ,,,Aterra‘: das bedeutet auf portugiesisch ,Die Erde‘. Das Wort erinnert an Lehmboden den, aber man denkt dabei auch Landlosen; in ,Aterra‘ steckt zudem eine Verbform. ,Me aterra‘ sagen wir und meinen so viel wie ,ich bin entsetzt er erklärt Ruben Darío Herrera‘ der Leiter der Theatergruppe. ,,Aterra" ist ein Stück über die ,,desplazados" in Kolumbien,die internen Flüchtlinge, das die Gruppe erarbeitet hat. Sie hat lange dafür gebraucht. Die SchauspielerInnen sind an die Originalschauplätze gefahren, würden Filmleute sagen und dabei ein Gefühl von Abenteuer und Authentizität vermitteln. Bei ,,Luz de Luna" hieß das: sich durchzuschlagen zu Gemeinden, deren Einwohnerinnen von Paramilitärs und Großgrundbesitzer verjagt wurden, die Flüchtlinge begleiten, ihren Alltag in Lagern teilen Geschichten sammeln, ZeugInnen hören. Zurück in Bogotá wurde aus dem Rohmaterial nach und nach in gemeinsamer Arbeit ein Theaterstück. Ein Abbild der Tatsachen?,, Nein, überhaupt nicht sagt Ruben Dario,,Es ist eine künstlerische Verarbeitung von Geschehnissen in diesem von Krieg heimgesuchten Kolumbien. Ein Bild, das den Betroffenen vielleicht hilft ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten , in dem sie in einem anderen, ästhetischen Gewand wieder vor ihnen auftauchen. Wir mußten dazu, eine neuartige Theatersprache entwickeln. Schrecken gehört dazu, aber auch Humor und Lachen."

"In einer Szene", erinnert Ruben Dario sich, ,,bringt ein Militär einer Mutter die Knochen ihres verschwundenen Sohnes wieder. Dieser Moment ist auf der ziemlich heikel. Aber da sagt die Mutter.

,Aber nein, das sind ja X-Beine, mein Sohn hatte doch so fürchterliche 0-Beine‘. Und alle lachen. Damit schaffen es die Leute, sich aus ihrer Verzweiflungsstarre zu lösen, neuen Mut zu schöpfen."

Körperarbeit, meint der Schauspieler, sei für solch ein Stück unglaublich wichtig. ,,Wir mögen für euch in Europa vielleicht klein aussehen, aber wir sind unheimlich durchtrainiert." Tanz, Bewegung, Choreographie sind zentrale Träger der Aussage. Ebenso Kleidung und Bühnenbild. In ,,Aterra" treten alle Schauspielerinnen mit langen Röcken und nacktem, lehmbeschmiertem Oberkörper auf. Der Boden ist mit mehrfarbigem Sand ausgestreut und von Linien durchzogen. Die Zeichnungen indianischen Ursprungs enthalten für ein kolumbianisches Publikum eine klare Symbolik.

Wir stehen eindeutig auf einer Seite

Dieses Publikum kommt in Scharen.,, Einmal hatten wir eine Aufführung nachts um eins auf der Plaza Bolívar. Der Platz war brechend voll. Das war unglaublich". Für Menschenrechtlerinnen ist Luz de Luna" ein klarer Referenzpunkt. Die Theatergruppe gehört zu deren ,,Szene". Aber sie gehört auch zu den Leuten den Armenvierteln, für deren Geschichten sie spielt in Bogotá wie in den Gemeinden irgendwo in Kolumbien, egal ob die Reisen dorthin beschwerlich und nicht selten gefährlich sind. ,,Wir spielen nicht für Leute, die in Konflikten stecken, wir sind selbst teil des Konfliktes. Wir zeigen in unseren Stücken ganz klar, von wem die Gewalt ausgeht", unterstreicht Rubén Darío.

Das hat der Truppe bereits mehrfach Drohungen eingebracht. Im letzten Jahr mußte Ruben Darío eine Zeit außer Landes verbrin- gen. Aber er gibt nicht auf mit dem Staat haben wir nichts am Hut. Die Gewalt wird hier staatlich geduldet, aber auch organisiert. Staat ist daher unser Gegner." Folglich bewirbt sich die Gruppe auch um kein staatliche Unterstützung.,, Wir sind wie die Leute, die kommen, um zu sehen", sagt Ruben Dario. Von einer C kann man kaum reden, wenn die Gruppe zu einer Aufführung in ein Dorf fährt, vor Flüchtlingen das Flüchtlingsdrama spielen. Es kommt vor, dass Leute aus Publikum, die sonst nichts haben, sich ein paar Nahrungsmitteln bei den Theaterleuten bedanken. Obwohl sie damit ein Risiko eingehen. ,,Wer mehr zu essen hat, als er selbst braucht", erklärt Rosario die Logik der Paramilitärs‘ ,,steht sofort im Verdacht, die Guerrilla zu versorgen", erklärt Rosario.

Rosario ist in der Theatertruppe eine Ausnahme. Sie ist erst im letzten Jahr dazu gestoßen." Ich studierte eigentlich Mathematik und war bei einem Workshop von ,Luz de Luna‘. Das hat mich so begeistert, dass ich zu Rubén Daro gegangen bin und gesagt habe: ,Ich muss bei euch mitarbeiten."‘ Seither ist sie Teil des Kollektivs in Atanasio Girardot, einem sehr armen Stadtteil östlich des Zentrums von Bogotä. Genau dort hatte Ruben Dario Herrera, diplomierter Schauspieler und Theaterwissenschaftler‘ vor knapp dreizehn Jahren jede Aussicht auf eine Filmkarriere an den Nagel gehängt und mit Straßenkindern und Kindern von in Bogotá Gestrandeten Theaterworkshops veranstaltet. Diese Workshops waren eigentlich als Teil eines pädagogischen Projektes konzipiert, aber nach drei Jahren schälte sich eine Gruppe von Jugendlichen heraus, die das Theater zu ihrem Leben machen wollte. Ihr erstes Stück war ,,Des Kaisers neue Kleider" von Hans Christian Anderson, aber bald begannen sie, eigene Stücke zu erarbeiten.,, Fantasia o Realidad" (Fantasie oder Wirklich-keit, 1993) behandelte die Lage der Bettler in der Stadt. 1997 nahm sich ,,Ventitas y Ventarrones" (Kioske und Wirbelwinde) der Straßenverkäufer an. Das vielleicht ergreifendste Stück war ,,Donde está?" (Wo ist er/sie?, 1995). ,,Darin geht es um das Verschwindenlas-sen , erläutert Ruben Dario‘ ,,ein Thema, das in Kolumbien weiterhin eine fürchter-liche Aktualität hat und für Tausende von Kolumbianerinnen mit der eigenen Familie oder Nachbarschaft zu tun hat. Anderthalb Jahre haben wir für die Erarbeitung gebraucht und oft dachten wir, wir schaffen es nie, die Komplexität der Verhältnisse künstlerisch in den Griff zu bekommen."

Aber sie schafften es. Mit einem Ensemble aus Schauspielerinnen, die gerade erst ihre Kindheit hinter sich gelassen hatten. Heute gehören etwa sechs Leute zur festen Truppe, rundherum viele mehr, für die das Theater eine Möglichkeit darstellt, die eigene Persönlichkeit zu festigen, Lebenswillen zu schöpfen, raus aus der Gefahr einer kriminellen Karriere zu kommen. Ruben Dario‘ Jahrgang 1963, ist für sie der ,,abuelo" (Großvater), was angesichts seines Aussehens einigermaßen überrascht. Aber wenn er aus seinem Erfah-rungsschatz zu erzählen beginnt, weiß man schnell, warum.

,,Eigentlich wollte ich damals, dass die Gruppe sich ,Hormigas‘ (Ameisen) nennt. Aber dann schlug ein Mädchen ,Luz de Luna‘ (Mondlicht) vor. Das erschien uns furchtbar kitschig. Aber der Name blieb hängen. Und irgendwie sind wir ja auch ,lunaticos‘, ,mondsüchtige TraumtänzerInnen" , schmunzelt er. Diese TraumtänzerInnen mit fester Verankerungund ständigem Austausch im Barrio verstehen sich als Kollektiv. Aus einer Gemeinschaftskasse, in die die Gage einfließt, werden die laufenden Ausgaben und das Überlebensnotwendige bezahlt. Zu mehr reicht es nicht. Die Bühne ist ein Platz, ein Sportstadion. Bei Stadtteil- oder Dorffesten laufen die SchauspielerInnen auf Stelzen herum und entwickeln ihre Stücken eine Straße hinunter oder eine Gasse hinauf. Für ihre fröhlichen ,,comparsas" Umzüge mit Musik und Kostümen, ist ,,Luz de Luna" weithin bekannt. Bis nach Venezuela und Cuba, wohin die renommierte Gruppe bereits zu Theaterfestspielen eingeladen wurde.

nzwischen auch bis ins belgische Antwerpen. Eine dortige Dritte-Welt-Gruppe hatte sie Ende August für die Teilnahme am ,,Antwerpener Sommer" engagiert. ,,Ein sehr ergreifendes Experiment", sagt Rosario. Denn im flämischen Antwerpen warteten ,,De Roovers" auf sie, eine einheimische Jugendtheatergruppe, um eine Woche lang in einem Workshop mit Übersetzer, aber vor allem mit Händen und Füßen eine gemeinsame Performance zu erarbeiten. Das Experiment gelang, ,,aber einfach war es nicht", meint Rosario. Die Idee, den Workshop in einem sozialen Brennpunktviertel mit hohem AusländerInnenanteil in einer stark vom rechtsradikalen Vlaamse Blok geprägten Stadt zu veranstalten, war eigentlich genial.,, Die Umgebung war für uns unglaublich lehrreich, die stets latente Aggression war wie in Bogotá - vergleich~ bar und doch wieder anders. Aber die Leute, mit denen wir zu tun hatten, waren wahnsinnig nett." Bei der Aufführung kam das Publikum dann allerdings nicht aus dem Viertel, sondern aus anderen Stadtteilen. ,,Trotzdem prägte der Veranstaltungsort natürlich die Atmosphäre für alle. Es knisterte nur so. Die Performance hatte den Titel ,, Romeo und Julia". Konfrontationen von Paaren in allen möglichen Varianten. Ein Stück zwischen Europa und Lateinamerika, zwischen den Geschlechtern, zwischen den verschiedenen Kolumbien. Lourdes, eine in Brüssel lebende kolumbianische Menschenrechtlerin, war nach Antwerpen gefahren, um das Spektakel zu sehen. Am Ende war sie einfach hin und weg. So sehr, dass sie sich auf dem Rückweg, noch ganz benommen, den Fuß verstauchte. Die ,,Lunáticos" sind einfach ansteckend.