Wer genau hinsieht, sieht keine Revolution: Anarchistische Perspektive der „Bolivarianischen Revolution“ in Venezuela Wayne, FAU Flensburg [Direkte Aktion, # 174, 2006] * Dieser Artikel ist entstanden, nachdem ich mehrere Wochen in Venezuela verbracht und viele Gespräche mit venezolanischen AnarchistInnen geführt hatte. Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in Venezuela Die Jahre von 1910 bis 1930 werden oft als die ,,goldene Ära“ des Anarchismus in Sudamérica betrachtet, die aber an Venezuela vorbei gegangen zu sein scheint. Die Diktatur in Venezuela von 1912 bis 1934 und die begleitende Repression hatten zur Folge, dass die Mehrheit der anarchistisch orientierten ArbeiterInnen aus Europa lieber in Länder wie Argentinien auswanderte, wo es eine stärkere anarchistische Tradition gab. Aus diesen Gründen ist die anarchistische Bewegung in Venezuela relativ schwach im Vergleich zu einigen anderen Ländern in Lateinamerika. Anarchistische Strukturen tauchten in den 80er Jahren auf, als verschiedene Gruppen an den Universitäten aktiv wurden. Die ArbeiterInnenbewegung im ganzen fing Ers. ziemlich spät an, sich zu entwickeln. Vor 1930 hatten die ArbeiterInnen kaum Einfluss auf die Politik im Land. Bevor 1930 Öl entdeckt und gefördert wurde, war Venezuela von der Landwirtschaft abhängig, insbesondere vom Kaffee, der die Hauptexportware des Landes war. Die Kaffeeherstellung konzentrierte sich auf bestimmte Regionen wie die Anden, Merida und Maracaibo im Westen des Landes. Diese Gegenden wurden von großen Caudillos (führenden Großgrundbesitzern und Kaffeebaronen) beherrscht, auf die die LandarbeiterInnen existentiell angewiesen waren. Mit dem Kommen des Erdöls nahm die Kaffeeherstellung drastisch ab, aber die Caudillos schafften es, ihren politischen Einfluss im Land zu behalten, insbesondere beim Militär. Von 1908 bis 1935 regierte der Diktator Juan Vicente Gomez das Land, und 1946 gab es einen gescheiterten Versuch, die Demokratie in Venezuela einzuführen. Der erste demokratisch gewählte Präsident Venezuelas, Romulo Betancourt, wurde innerhalb von acht Monaten durch einen Militärputsch gestürzt und Marcos Perez Jimenez übernahm die Macht mit Hilfe der Armee und der US-Regierung. Erst 1958 wurde die Demokratie wieder hergestellt, als Admiral Wolfgang Larrazabal mit der Unterstützung des Militärs Marcos Perez Jimenez verdrängte und der linksgerichtete Romulo Betancourt mit seiner Partei der Demokratischen Aktion (Acción Democrática) die Wahl gewann. Nun war es möglich, Gewerkschaften zu gründen, die vor diesem Zeitpunkt illegal gewesen waren. Die neuen Gewerkschaften wurden von den MarxistInnen und KommunistInnen stark beeinflusst und stammten eher aus den Reihen der politischen Parteien. Die Linken verließen sich auf die Regierung als Mittel sozialer Veränderungen, was fehlende Autonomie innerhalb der ArbeiterInnenbewegung zur Folge hatte. Gewisse soziale Verbesserungen waren wegen des riesigen Ölvorkommens im Land möglich. Deshalb ist der Verbrauch von Ölgeld, um die Bevölkerung zu beruhigen, nichts Neues, und die gegenwärtige Regierung führt diese Tradition weiter. Chávez, der Revolutionär? 1998 gewann Hugo Chávez Frías die Präsidentenwahl mit 56,2% der Stimmen. Seit dem Sturz von Perez hatten sich die zwei Hauptparteien, Acción Democrática und COPEI (die christlichsoziale Partei), in der Machtausübung abgewechselt. Sie teilten den Reichtum im Land friedlich und geschäftsmäßig auf. Keine der beiden Parteien hatte etwas davon, den ärmeren Bevölkerungsschichten etwas anzubieten. Hugo Chávez schaffte es, die zahlreichen kleinen Gruppen der Linken und die ausgegrenzten Armen zu vereinigen. Die Mehrheit der Linken unterstützten Chávez unkritisch, weil sie endlich die Möglichkeit sahen, an die Macht zu gelangen. Es wird behauptet, dass Chávez ein Revolutionär sei, aber Chávez ist in erster Linie ein Regierungschef mit militärischer Laufbahn und keinen klaren politischen Plänen, außer einer vagen antiimperialistischen Grundhaltung. Seine Realpolitik dreht sich um Öl und Globalisierung, beide sehr wichtig für Venezuela, um sich auf dem internationalen Ölmarkt und auf der politischen Weltbühne behaupten zu können. Die Chávez-Regierung braucht die Globalisierung, damit sie Verträge mit den großen Ölkonzernen wie ChevronTexaco, ABB, Teikoku und Statoil, abschließen kann. Trotz seiner anti-kapitalistischen Rhetorik hat Chávez den Öl- und Gaskonzernen riesige Gebiete in Venezuela überlassen, z.B. die Platforma Deltan, große Ölfelder an der Küste von Venezuela. Es gibt zahlreiche andere Beispiele, wie die Unterzeichnung von Verträgen mit Royal/Dutch Shell, um Erdgas in Marshal Sucre im Wert von $2,7 Milliarden zu fördern, oder das „American Port“-Projekt mit mehreren Großkonzernen, um Kohle im Wert von $60 Millionen in Zulia herzustellen. Ende Juli haben venezolanische und US-amerikanische Firmen eine Geschäftsrunde abgeschlossen, in der 249 Unternehmen geschätzte $624,5 Millionen aushandelten. Momentan sind US-venezolanische Geschäfte ungefähr $29 Milliarden wert, was Venezuela zum drittgrößten Handelspartner der Vereinigten Staaten in Lateinamerika macht. Trotz ihrer antiimperialistischen Rhetorik lieferte die Chávez-Regierung den USA während des US-Angriffs auf den Irak weiterhin Öl. 2003, das Jahr des zweiten Irak-Krieges, war das staatliche Ölunternehmen, die PDVSA, der zweitgrößte Lieferant von Erdöl an die USA. Etwa 47 Millionen Barrel Öl im Wert von $333 Millionen erreichten die USA, was ungefähr 13% der gesamten Ausfuhr von Venezuela in diesem Jahr ausmachte. Trotz seiner Antiglobalisierungs-Rhetorik zahlt Chávez die Auslandsschulden an die großen internationalen Finanzinstitutionen pünktlich zurück. Chávez weiß, dass er, so lange das Öl im Land weiter fließt, die Bevölkerung mit sozialen Projekten und revolutionären Parolen beruhigen kann. Obwohl die Armen einige kurzfristige Verbesserungen in den Bereichen Gesundheit und Erziehung erlebt haben, gibt es bisher keine echten Änderungen der sozialen Strukturen des Landes, sondern nur neue Etiketten und neue Farben. Das Militär hat beträchtlichen Einfluss behalten und die Zahl der Militärs und Ex-Militärs, die Regierungsämter bekleiden, hat unter Chávez sogar zugenommen. Momentan besteht das Chávez-Regime aus einem Zusammenschluss von KommunistInnen und anderen Linken mit konservativen Militärs, Rechten und OpportunistInnen, ein Phänomen, das nur als Chavismus bezeichnet werden kann. Die Opposition besteht auf der einen Seite aus Neoliberalen, Großgrundbesitzern und Rechten und auf der anderen Seite aus SozialistInnen, KommunistInnen und AnarchistInnen, welche sich feindlich gegenüberstehen, was die politische Lage weiter verkompliziert. Die libertäre Bewegung in Venezuela hat sich über die Frage gespalten, ob sie der Chávez-Regierung ihre Unterstützung gewähren sollen oder nicht. Wer sind die wahren AnarchistInnen? Trotz der Tatsache, dass die Kritikpunkte der AnarchistInnen an Chávez ganz andere sind als die der rechten Opposition, werden erstere von den so genannten „anarcho-chavistas“ (Pro-Chávez-AnarchistInnen) beschuldigt, dass sie in die Hände der rechten Opposition spielen oder sogar die Rechten unterstützen würden. Leider finden viele dieser Auseinandersetzungen auf einer persönlichen statt einer politischen Ebene statt, ohne dass es zu einer echten Discusión zwischen den verschiedenen Gruppen kommt. Die „anarcho-chavistas“ behaupten, dass die traditionellen AnarchistInnen keine wahren AnarchistInnen seien, weil sie gegen eine „revolutionäre“ Regierung agieren würden. Die traditionellen AnarchistInnen ihrerseits behaupten, dass die „anarcho-chavistas“ keine AnarchistInnen seien, weil sie eine Regierung unterstützten, was gegen die Prinzipien des Anarchismus verstößt. Mehr als ein paar Freundschaften sind wegen dieses Konfliktes zugrunde gegangen. Die traditionellen AnarchistInnen, wie die El Libertario-Kollektive in Caracas, sind gegen alle Regierungsformen, weil diese nur ein Mittel der Unterdrückung sind und ihre Macht mit Gewalt verteidigen. Nach der Meinung der „anarcho-chavistas“ ist die Chávez-Regierung das geringere Übel, insbesondere, wenn mensch sie mit der Regierung des Nachbarlandes Kolumbien vergleicht, welches von dem ultrarechten Präsidenten Alvaro Uribe regiert wird. Die „anarcho-chavistas“ glauben, dass die gegenwärtige Lage und die Akzeptanz der Chávez-Regierung es ihnen ermögliche, sich unter die Bevölkerung zu mischen, um diese weiter zu radikalisieren. Die traditionellen AnarchistInnen werfen den „anarcho-chavistas“ vor, dass sie den Personenkult von Chávez nähren und die Regierung direkt unterstützen würden, und ihre Ideen eher einer marxistischen als anarchistischen Richtung entsprächen. Die „anarcho-chavistas“ hingegen behaupten, dass es nicht der richtige Zeitpunkt sei, die Chávez-Regierung zu kritisieren, und haben Angst davor, mit den Reaktionären in einen Topf geworfen zu werden, da Chávez alle, die seine Regierung kritisieren, regelmäßig als Kontrarevolutionäre bezeichnet. Leider nützen AnhängerInnen der Regierung diese Spaltung aus, um die AnarchistInnen in „gute“ und „böse“ AnarchistInnen zu teilen, (obwohl es im Endeffekt für alle Regierungen keine „guten“ AnarchistInnen gibt!). Die Circulos Bolivarianos und Autonomie Die abnehmende Autonomie und die zunehmende Abhängigkeit der Politik von Chávez könnte bedeuten, dass, sollte Chávez aus irgendeinem Grund seines Amtes enthoben werden, die „Bolivarianische Revolution“, d.h. die Verbesserungen, die im Land stattgefunden haben, leicht rückgängig gemacht oder zerstört werden könnten. Von einem Menschen so abhängig zu sein, macht den sozialen und politischen Fortschritt schwach und prekär und läuft auf das Risiko hinaus, eine Diktatur entstehen zu lassen. Als Chávez an die Macht kam, betonte er die Wichtigkeit der Macht von unten. Die Gründung von zahlreichen Circulos Bolivarianos (politisch bewussten Gemeindegruppen) in den Barrios (Armenviertel) bestätigte diese Aussage und wurde anfangs wegen ihres freiheitlichen Charakters von der Mehrheit der libertären Bewegung als fortschrittlich begrüßt. Es schien tatsächlich, als ob eine Revolution von unten stattfände. Aber im Laufe der Zeit mischte sich die Regierung immer öfter in die Angelegenheiten der Circulos ein und versuchte, sie in chavistische Wahlwerbegruppen umzuwandeln. Das Risiko besteht, dass die Gruppen wie in Kuba zu Circulos de Defensa de la Revolución (Zirkel zur Verteidigung der Revolution) werden, die Castro zu Bespitzelung und Kontrolle der Bevölkerung verwendet. Die Gewerkschaftsbewegung in Venezuela Obwohl die anarchistische Bewegung ständig wächst, gibt es wegen der fehlenden syndikalistischen Traditionen kaum Anarcho-SyndikalistInnen in Venezuela. Wie schon erwähnt, ist die Gewerkschaftsbewegung relativ jung. Die CTV (Confederación de Trabajadores de Venezuela/ Konföderation der ArbeiterInnen Venezuelas) wurde erst 1958 von den konservativen Parteien, AD und Copei, gegründet. Die CTV wird im Stil der großen europäischen und US-Gewerkschaften hierarchisch geführt, mit geringer oder keiner Beteiligung der Arbeiterschaft. Die CTV arbeitete 2002 während des sogenannten „Generalstreiks“, der nichts anderes als eine Aussperrung der ArbeiterInnen war, mit den Bossen zusammen. Chávez versuchte 1999 eine Alternative, die FBT (Fuerza Bolivariana de Trabajadores/Bolivarianische Kräfte der ArbeiterInnen) aufzubauen, mit der er die CTV infiltrieren und die Organisation unter seine Kontrolle bekommen wollte. Sein Versuch ist gescheitert. Folglich wurde 2001 die UNT (Union Nacional de Trabajadores) gegründet, die parallel zur CTV existieren soll. Die UNT ist wie die CTV hierarchisch strukturiert und verhindert autonome Handlungen der ArbeiterInnen. Zum Beispiel besetzten 2002 trotzkistische Mitglieder der UNT 9 ungenutzte Fabriken. Dieses Ereignis, dass sich erst einmal positiv anhört, kann leider nicht mit den Fabrikbesetzungen in Argentinien verglichen werden, weil die Besetzer nichts gemacht haben, ohne vorher die Regierung um Erlaubnis zu bitten, auch wenn dies bedeutete, Wochen lang untätig herumzusitzen. Anstatt sich selber zu organisieren, zogen sie es vor, von der Regierung Krümel zu erbetteln. Die Zukunft Obwohl die Entwicklung einer unabhängigen sozialen Bewegung durch das Sich-Verlassen auf die Chávez Regierung nicht gerade gefördert wird, wächst eine solche doch langsam heran, besonders in den Bereichen Feminismus, Indigenenrechte und Umweltschutz, drei Bereichen, die von der Regierung vernachlässigt werden. Die linke Opposition wächst, da immer mehr Linke enttäuscht werden durch die Oberflächlichkeit und die Richtung, die die „Bolivarianische Revolution“ anscheinend genommen hat. Obwohl das Chávez-Regime auf keinen Fall eine Diktatur ist, wie die rechte Opposition gerne behauptet, und wahrscheinlich „demokratischer“ ist als die meisten Regierungen auf der Welt, ist es nicht möglich zu sagen, dass eine echte Revolution in Venezuela stattfindet, sondern nur, dass zahlreiche Reformen, besonders im Gesundheits- und Ausbildungswesen, vorgenommen worden sind. Obwohl ein Interesse am Anarcho- Syndikalismus als Alternative langsam wächst, werden wir, solange Chávez so viel Einfluss auf die ArbeiterInnenbewegung hat, in der nahen Zukunft keine beträchtlichen Entwikklungen sehen.