Den Tauben predigen: Chavismus und Anarchismus in Venezuela [DA - Direkte Aktion Nr. 183, September/Oktober August 2007] * Die HerausgeberInnen des "El Libertario" treten mit dieser Zusammenfassung ihrer Ansichten (nach eigener Aussage) noch einmal allen Vorurteilen der "Linken", welche sich durch die angebliche Revolution, durchgeführt von Chávez, beeindrucken lassen, entgegen. FRAGE: Chávez redet viel über Sozialismus, Volkssouveränität und Teilnahme. Warum haltet ihr trotzdem einen solchen Abstand zu Chávez und kritisiert ihn in aller Öffentlichkeit? ANTWORT: Chávez redet viel. Sein "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" ist nur Populismus und Staatskapitalismus auf der Basis des Öleinkommens. Die Volksouveränität ist die Souveränität einer aus Militär, transnationalen Konzernen und der "bolivarischen Bourgeoisie" gebildeten Elite. Um einen Eindruck davon zu bekommen, was der Commandante als Teilnahme ansieht, reicht es schon, sich die kürzlich gewährten Machtzuwächse des Präsidenten anzusehen. Der Anarchismus kennt keine dauerhafte und allmächtige Führung, sondern nur eine, die beständig von denen bestätigt wird, die sie repräsentiert. Dies ist der Ausdruck von Souveränität und Teilnahme, die jedoch in diesem Prozedere nicht gegeben ist und auch in keinem anderen, daß die hierarchische und andauernde Macht des Staates unterstützt. FRAGE: Die offensichtliche Absicht der Regierung ist es, eine friedliche und demokratische Revolution zu machen. Warum warten wir nicht ab, wie dieser Prozeß abläuft, anstatt unsere Meinungen dazu zu äußern? ANTWORT: Zu viele Tyrannen und Demagogen haben uns auf diesem Kontinent dasselbe erzählt und es gab keinen Anlaß, sie zu unterstützen. In unserem Fall hat es eine Revolution in dem Sinne gegeben, daß unsere Lebensweise in vieler Hinsicht demontiert wurde, aber dies ist noch kein Grund zur Unterstützung. Wenn wir, zulassen, daß dieser Prozeß sich konsolidieren kann, wird es noch schwieriger, etwas zu ändern. FRAGE: Wenn es auch stimmt, daß ihr Projekt nicht libertär ist, so fordert der Chavismus doch die Oligarchie und den Imperialismus heraus. Was sagt ihr dazu? ANTWORT: Der Kampf gegen die so genannte Reaktion und Oligarchie - diese Bezeichnungen dienen eher propagandistischen Zwecken - dient nur der Konsolidierung der Macht der Sieger, woraus sich notwendigerweise eine neue Oligarchie bildet, weil das die Logik der Kontrolle über den Staat ist. Dies geschah in der UdSSR, in China und in Kuba. Es ist zu ungenau, daß chavistische Projekt als Opposition gegen die Verschwörung zu sehen, da ihr erstes Ziel der Staatsstreich war und sie beständig damit prahlen, daß sie sich mit der Sprache und den Sitten des Kasernenhofs identifizieren. Der Kampf der Minderheit (der Oligarchie) gegen die Regierung reduziert sich selbst auf den Kampf einer Minderheit gegen eine andere. Im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Imperialismus legen wir den Schwerpunkt auf die Politik, die die Regierung in den Bereichen Öl, Bergbau, Landwirtschaft, Industrie, Arbeit etc. ankündigt und umsetzt. Sie scheinen demnach keine Feinde des Imperiums zu sein, sondern Verbündete. (siehe DA # 181) FRAGE: Die venezolanische Regierung kündigt jetzt einen explosionsartigen kommunalen Machtzuwachs an, massive Einberufung von kommunalen Räten, kommunale und horizontale Organisationen der Volksmacht. Unterstützen AnarchistInnen solche basisdemokratischen Strukturen? ANTWORT: Wir mußten erkennen, daß die Einrichtung, Arbeit und Handlungsfähigkeit der kommunalen Räte von deren Loyalität gegenüber dem Staat abhängt, da der Präsident mittels erlassener Gesetze die Macht erhielt, diese Organisationen anzuerkennen oder seine Anerkennung zu versagen. Es gibt in Venezuela Beispiele dafür, daß viele basisdemokratische Organisationen wie etwa die Gewerkschaften auf Order von oben lauschen. Es gibt aber auch Ansätze für eine wirkliche Organisation von unten nach oben in einigen Bereichen, auf lokaler Ebene, bei den Bäuerinnen und Bauern, den Indigenas, den UmweltschützerInnen, Studierenden, kulturelle Organisationen etc., auch ohne die Zustimmung der Regierung. Wir sind der Meinung, daß die gesetzmäßige, funktionale und finanzielle Abhängigkeit der kommunalen Räte von der Staatsmacht ein ernstes Hindernis ist, um auf diese Weise eine basisdemokratische, autonome Bewegung aufzubauen. Dies gilt auch für die angekündigten Arbeiterräte in den Betrieben, die offenbar ein Projekt sind, daß die freien Gewerkschaften beseitigen soll. FRAGE: Warum kritisieren AnarchistInnen die venezolanischen Streitkräfte? ANTWORT: In allen modernen Armeen, vom Europa des 17. und 18. Jahrhunderts bis hin zu Lateinamerika heute, besteht der größte Teil der Armeen aus Wehrpflichtigen aus der Bevölkerung. Trotz der Herkunft der Mehrheit der Soldaten ist der Grund für die Existenz der Armee die Verteidigung einer Machtstruktur und deren Profiteure und daher kann die Armee keine Revolution unterstützen, die zugunsten der Unterdrückten ist. Da wird vielleicht die eine oder andere Figur ausgetauscht und einige Regeln der Machtstruktur geändert, aber da wird nie abgeschafft, weil Befehl und Gehorsam ihr Wesen ausmachen. Aus diesem Grund unterstützen wir keine Armee, keine Polizei und keine privilegierte Person, die die Macht und die Waffen gegen andere Personen einsetzen können. Der Anarchismus ist gegen den Nationalismus, weil dieser die Verteidigung der Interessen gewisser Gruppen beinhaltet, die in künstlichen nationalen Territorien leben und glauben, sie seien anders oder gar besser als andere. Wir sind Feinde jeder Art von Privileg, gleich ob diese sich auf Geburt, Rasse, Kultur, Religion oder Geburtsort gründen. Außerdem spricht die unglückliche Geschichte des venezolanischen Militärs für sich: als Institution vom Tyrannen Gómez eingerichtet, um die föderalistischen Bestrebungen der Regionen zu unterbinden, während der Kämpfe gegen die linke Aufstandsbewegung der 1960er Jahre konsolidiert und als Henker beim Massaker von 1989. FRAGE: Sind die venezolanischen AnarchistInnen 'Escuálidos' (Elende, Erbärmliche - ein Spottname, mit dem der Chavismus seine Gegner bezeichnet) und unterstützt sie aus diesem Grunde die Sozialdemokraten und die rechte Opposition? ANTWORT: 'Escuálido' ist nur eine von Medien gebrauchte Schublade. Wenn sie dieses Wort jedoch benutzen wollen, um diejenigen zu beschreiben, die ihre Freiheit und Unabhängigkeit nicht der Autorität einer Person, Partei oder Ideologie unterwerfen, wollen, ja, dann sind wir es. Wenn wir unter diesem Wort aber verstehen sollen, daß wir Ideologien unterstützen, die geprägt sind vom ökonomischem Liberalismus, mit der quasi rassistischen Verachtung der Eliten für die Mehrheit, mit dem Betrug der repräsentativen Demokratie oder die Rückkehr zu Formen soziopolitischer Organisation, die von der Geschichte besiegt wurden - dann sind wir es nicht. Wir unterstützen Chávez und seine Mitbewerber nicht, wir können zwar den Handlungen oder Worten des ein oder anderen zustimmen, aber wir kritisieren die überwiegende Mehrheit der Handlungen und Worte aller. Vor allem können wir aufgrund unserer Prinzipien nicht diejenigen unterstützen, die das Streben nach einem besseren Leben auf die Unterordnung des Volkes unter die Hierarchie eines Staates bauen, wie es beide Fraktionen tun. FRAGE: Es gibt Personen, die sich selbst als libertär ansehen, aber die "bolivarische Revolution" befürworten. Wenn wir diese als weniger anarchistisch ansehen, wäre dies ein Argument gegen den anti-dogmatischen Geist des Anarchismus? ANTWORT: Nein. Der Anarchismus ist kein Seelenzustand. Er ist ein Weg, sich mit den wandelnden sozialen Bedingungen zu konfrontieren, die den Wohlstand für jeden im Zusammenhang mit dem Wohlstand für alle sehen, mit Vorschlägen, die von bestimmten Personen kommen und die dann zu bestimmten Zeiten und Bedingungen diskutiert, angenommen oder verworfen werden. Nur die gegenseitige Interaktion identifiziert uns, und nur die anderen AnarchistInnen erkennen uns je nach unserem Verhalten oder unseren Ideen als AnarchistInnen an. Wir sind nicht vollkommen und daher können wir auch mal Ideen entwickeln, die nicht akzeptabel sind. Diese Tatsache mindert oder erhebt uns nicht, es macht uns nur anders und in einigen Fällen können die Vorstellungen auch so unterschiedlich sein, daß die gegenseitige Identifizierung verloren geht. FRAGE: AnarchistInnen reden nur und beteiligen sich nicht. Welchen Vorschlag haben sie, um die gegenwärtige venezolanische Realität zu verändern? ANTWORT: Unser Kampf ist keine Sache des Augenblicks oder der Umstände, sondern will eine neue Lebensweise, die wir im individuellen und kollektiven Leben anwenden, bei dem Direkte Aktion und Selbstverwaltung unser Leben in unsere eigenen Hände legen, bei dem wir Dinge ernsthaft und ehrlich erkunden und bei dem wir unsere Beziehungen zu anderen Menschen auf die Gleichheit gründen. Vorhandene Unterschiede machen keinen besser als die anderen; wir beziehen immer mit ein, daß wir unsere Existenz anderen verdanken, deren Interessen wir zuerst berücksichtigen müssen, damit wir uns um unsere kümmern können. JedeR lebt sein/ihr Leben und ist dafür vor sich selbst und vor den anderen verantwortlich, und keiner kann uns "Erlösung" bringen. Daher gibt es kein Rezept für irgendeine bestimmte soziale Realität, da die Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten zur Veränderung das Ergebnis eines bewußten und ständig ablaufenden kollektiven Einsatzes sind, den wir mit unserer fröhlichen Beteiligung leisten wollen bei der Wiedererlangung der Souveränität der sozialen Bewegungen des Landes, die einen möglichen Raum bieten für die Entwicklung und den Einfluß anarchistischer Ideen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität.