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25.07.2001
Berichte von Folterungen
Schwere Vorwürfe von Augenzeugen gegen die italienische Polizei. Auswärtiges Amt unter Druck

Erst Tage nach dem Sturm auf das Medienzentrum und ein naheliegende Unterkunft von Demonstranten im italienischen Genua wird die ganze Brutalität des Polizeieinsatzes deutlich. Bei einer Informationsveranstaltung schilderten am Dienstag im linksalternativen Kulturzentrum Mehringhof in Berlin mehrere Augenzeugen, deutlich betroffen von dem Erlebten, die Attacke der italienischen Einheiten auf die beiden Gebäude. Nach den Schilderungen sei die Polizei völlig enthemmt in die Unterkunft, ein Grundschulgebäude, gestürmt und habe wahllos auf die etwa 80 darin Schlafenden eingeschlagen.

»Ich flüchtete mit einem Kollegen auf das Dach des Medienzentrums«, so Ingo Keil, Mitarbeiter des Nachrichtendienstes Indymedia. Er schweigt und senkt den Blick. »Wir lagen da oben starr vor Angst und beobachteten, wie die Einheiten im gegenüberliegenden Gebäude Etage für Etage durchkämmten«. Als die Polizisten ihn sahen, hätten sie aus dem Fenster rübergeschrieen. Andere Einheiten hatten zu diesem Zeitpunkt schon das Medienzentrum besetzt. »Das war absolut das schlimmste Erlebnis, das ich je hatte«, sagt der junge Mann. Die anderen im Podium nicken zustimmend. »Während ich die Schreie hörte, ging mir die ganze Zeit der Gedanke durch den Kopf, die Polizei rufen zu müssen«, fügt eine junge Frau hinzu. »Aber das war die Polizei.«

Deutlich wurde nach den Schilderungen auch, daß die Aktion offensichtlich nicht nur gegen Demonstranten, sondern auch gegen die unabhängige Presse gerichtet war. Neben der Zerstörung von Computern berichteten mehrere Zeugen davon, daß aus Kameras Filme entfernt werden mußten. In anderen Fällen wurden die Filme gestohlen, während die Mitarbeiter des Medienzentrums sich auf den Boden legen mußten. Erst nachdem ein »älterer Mann mit einem Anzug« den Ort des Geschehens betreten und dreimal in die Hände geklatscht habe, hätten die Beamten von den Festgenommenen abgelassen. Der Mann, dessen Identität nach wie vor ungeklärt ist, habe einige Beamte per Handschlag begrüßt.

Während die Menschen im Medienzentrum weitgehend nur Sachschaden zu beklagen haben, bot das gegenüberliegende Schulgebäude ein Bild der Verwüstung. »Überall sahen wir Blutspuren, an den Wänden, teilweise meterlang«. Unter einer Heizung habe sich eine Blutlache mit einem Durchmesser von anderthalb Metern gebildet, »als ob jemand mit dem Kopf immer und immer wieder gegen den Heizkörper geschlagen worden sei«.

Derweil häufen sich die Berichte von Folterungen der Gefangenen in den Gefängnissen und Krankenhäusern. Die Berichte stammten von den wenigen Anwälten, die zu den Gefangenen durchgedrungen sind. Besonders problematisch: Der Presse wird nach wie vor der freie Zugang zu den Krankenhäusern und Gefängnissen verwehrt. Bei den wenigen Gesprächen mit Medizinern, die gegen alle Widerstände der staatlichen Instanzen zustande kamen, hätten diese anscheinend unter Druck offensichtliche Falschaussagen gemacht. Der Schwester eines schwerverletzten Deutschen wurde noch am Montag der Zugang zu ihrem Bruder verwehrt. Der aus Berlin stammende Mann liegt mit einer Hirnblutung weiterhin im Koma. Auch er wollte in dem Schulgebäude übernachten.

Auch die Tochter von Bodo Zeuner, einem renommierten Politikwissenschafter des Otto-Suhr-Instituts der Freien Universität Berlin, befindet sich in nach wie vor in Haft. Zeuner beklagte vor allem das mangelnde Engagement der BRD-Vertretungen. Vom Generalkonsulat in Mailand habe er »bei jedem Anruf unterschiedliche Informationen« erhalten, während das Bundeskriminalamt überhaupt keine Auskunft erteilt habe. Ein seltsames Justizverständnis habe das Lagezentrum des Auswärtigen Amtes entwickelt: »Dort sagte man mir, daß sich meine Tochter durch ihren Aufenthalt in der Schule schließlich der Verschwörung und Zusammenrottung schuldig gemacht habe«.

Mehrere Wissenschaftler von Berliner Universitäten haben sich in einer Petition am gestrigen Dienstag an das Auswärtige Amt gewandt und sofortige Aufklärung des Schicksals der Inhaftierten gefordert.

Den Verbleib der vermißten jW-Mitarbeiterin ist inzwischen aufgeklärt. Nach Angaben des Generalkonsulates befindet sich Kirsten Wagenscheid in Voghera in Haft. »Im übrigen«, heißt es in dem am gestrigen Dienstag eingegangenen Fax, »ist am heutigen Tage (...) der Haftprüfungstermin.« Danach würden sich u.U. neue Entwicklungen ergeben.

Harald Neuber

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